Umgang Vormedikation (aus den Empfehlungen Juni 2017)
Kreislaufwirksame Pharmaka
Die Indikationen für einen präoperativen Neubeginn einer Therapie mit ß-Rezeptorantagonisten werden kontrovers diskutiert. Die präoperative Gabe eines ß-Rezeptorantagonisten kann erwogen werden
sowie
Von einer präoperativen Neueinstellung wird abgeraten, wenn eine Dosistitration des ß-Rezeptorantagonisten nach Herzfrequenz und Blutdruck mit ausreichendem Abstand zur Operation nicht gewährleistet oder lediglich eine Operation mit niedrigem kardialem Risiko geplant ist.
Ob Ca2+-Antagonisten das perioperative ‚Outcome’ verbessern, ist unklar. Im Allgemeinen wird eine bestehende Dauertherapie perioperativ weitergeführt.
Demgegenüber bringt die Fortführung einer Therapie mit Diuretika am OP-Tag selten Vorteile, birgt aber das Risiko der perioperativen Hypovolämie und Hypokaliämie. Eine Dauertherapie mit Diuretika sollte jedoch postoperativ rasch weitergeführt werden, insbesondere bei Patienten mit Herzinsuffizienz.
Bei Patienten, die ACE-Hemmer (ACEI) oder Angiotensin-II-Rezeptorantagonisten (ARB) noch am Operationstag einnehmen, treten perioperativ gehäuft Hypotensionen auf, die durch konventionelle Vasokonstriktoren oft nur unzureichend therapierbar sind und gelegentlich die Gabe von Vasopressinanaloga erfordern. Studien belegen den Zusammenhang zwischen Ausmaß bzw. Zeitdauer perioperativer Hypotonien und dem Auftreten postoperativer (v.a.kardialer) Komplikationen. Bei Eingriffenmit hohen Volumenverschiebungen sowie bei Patienten mit bestehender bzw. geplanter Sympathikolyse (z.B. durch ß-Blocker oder PDA) wird daher auf eine Medikation mit ACEI oder ARB am OP-Tag meist verzichtet. Andererseits kann ein Absetzen der Therapie eine perioperative Hypertension zur Folge haben und insbesondere bei Patienten mit linksventrikulärer Dysfunktion die kardiale Situation verschlechtern. So kann bei Patienten mit vorbestehender Herzinsuffizienz bzw. linksventrikulärer Dysfunktion sogar der Neubeginn einer Therapie mit ACEI bzw. ARB eine Woche präoperativ erwogen werden. Wird ein ARB präoperativ abgesetzt, sollte die Medikation postoperativ rasch weitergeführt werden, da andernfalls die 30-Tage-Letalität ansteigt.
Digitalis-Glykoside zur Therapie einer chronischen Herzinsuffizienz werden wegen ihrer geringen therapeutischen Breite, schlechten Steuerbarkeit und arrhythmogenen Potenz meist präoperativ abgesetzt. Angesichts der langen Halbwertszeit der Präparate ist der Nutzen eines kurzfristigen Absetzens jedoch unsicher. Patienten mit normofrequenter absoluter Arrhythmie sollten die Medikamente weiter erhalten, da hier das Absetzen perioperativ Tachyarrhythmien auslösen kann.
Antidiabetika
Sulfonylharnstoffe verhindern im Tierexperiment die durch Ischämie bzw. volatile Anästhetika induzierte, insbesondere myokardiale Präkonditionierung und vergrößern so das Nekroseareal des Myokards nach Ischämie. Ob ähnliche Effekte auch beim Menschen auftreten und Sulfonylharnstoffe daher präoperativ abgesetzt werden sollten, ist bislang jedoch unklar.
Glitazone erhöhen die Sensitivität verschiedener Gewebe gegenüber Insulin und werden zunehmend bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ II zur Glucosekontrolle eingesetzt. Kasuistisch wurde über eine akute Herzinsuffizienz im Zusammenhang mit Glitazonen berichtet. Die Relevanz dieser Befunde für das perioperative Management ist unklar.
Die Wirkung von Gliptin entspricht der Wirkung des körpereigenen Hormons Inkretin und senkt über eine vermehrte Insulinfreisetzung aus den ß-Zellen und eine erhöhte Glukagonsynthese in den á-Zellen des Pankreas den Blutzucker. Hypoglykämien treten bei einer Monotherapie mit Gliptinen in der Regel nicht auf.
Metformin kann bei Kumulation (z.B. Niereninsuffizienz) in seltenen Fällen zu einer lebensbedrohlichen Laktazidose führen, so dass in der Fachinformation ein Absetzen 48 h vor dem Eingriff empfohlen wird. Im direkt perioperativen Bereich scheint das Risiko der Laktazidose jedoch äußerst gering zu sein [36]. Nach individueller Nutzen-Risiko-Abwägung ist daher auch eine Weiterführung der Medikation bis zum Vorabend der Operation zu rechtfertigen. Die britischen „National Health Services“ (NHS) sowie die „Society of Ambulatory Anaesthesia“ (SAMBA) empfehlen sogar die Fortführung der Metformintherapie bei Nierengesunden, u.a. wegen Hinweisen auf ein verbessertes Outcome bei diesem Vorgehen [37]. Bei geplanter intravenöser Gabe von Kontrastmittel sollte allerdings die Metformingabe 24-48h vor dem Eingriff pausiert werden [38]. Insgesamt sollte die Entscheidung über das Fortführen oder Absetzen oraler Antidiabetika von der Kontrolle des Blutzuckers und weniger von deren potenziellen Nebenwirkungen abhängig gemacht werden.
Insuline stellen die Standardtherapie bei Diabetes Typ I sowie bei fortgeschrittenem Diabetes Typ II mit Wirkungslosigkeit oraler Antidiabetika dar. Bei der Insulintherapie wird eine konventionelle Insulintherapie von einer Intensivierten Insulintherapie (mit einer Kombination aus einem langwirkenden „Basalinsulin“ und einem kurzwirksamen Normalinsulin zu den Mahlzeiten) und einer Insulinpumpentherapie unterschieden. Durch die präoperative Nüchternheit und des je nach Art und Größe des Eingriffes bestehenden Postaggressionsstoffwechsels ergibt sich bei fortdauernder Insulintherapie das Risiko einer Hypoglykämie. Bei kurzdauernden Eingriffen und präoperativ bestehender, intensivierter Insulintherapie sollte am Morgen des OP-Tages lediglich die Basisinsulintherapie ohne zusätzliche Bolusgabe erfolgen. Bei konventioneller Insulintherapie sollte dagegen im Rahmen einer kurzdauernden OP nur 50% der üblichen Insulindosis im Rahmen eines Verzögerungsinsulins gegeben werden. Postoperativ kann dabei die übliche Insulintherapie fortgesetzt werden. Engmaschige Kontrollen und ggf. Korrekturen des Blutzuckers sind während des gesamten perioperativen Verlaufs unerlässlich.
Psychopharmaka etc.
Trizyklische Antidepressiva hemmen die Wiederaufnahme von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin im ZNS und in den peripheren Geweben. Die chronische Applikation unterhält die Entleerung der zentralen Katecholaminspeicher und erhöht den adrenergen Tonus. Die Wirkung direkter Sympathomimetika ist unter einer Dauertherapie mit trizyklischen Antidepressiva erhöht, die von indirekten abgeschwächt. Dies muss besonders bei der Verwendung von Lokalanästhetika mit Adrenalinzusatz bedacht werden. Trizyklische Antidepressiva potenzieren zudem die Wirkung von Hypnotika, Opioiden sowie Inhalationsanästhetika.
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) hemmen die präsynaptische Wiederaufnahme von Serotonin im synaptischen Spalt. Das präoperative Absetzen von SSRI kann zu Entzugserscheinungen führen. Andererseits kann es bei gleichzeitiger Gabe von Medikamenten, die die Wiederaufnahme von Serotonin hemmen oder serotomimetisch wirken (z.B. Pethidin, Pentazocin, Tramadol, MAO-Hemmer), zum Serotonin-Syndrom mit Hyperthermie, vegetativer Instabilität und Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma kommen.
Bei den Monoaminooxidase (MAO)- Hemmern existieren drei Gruppen: Substanzen der 1. Generation (Isocarboxazid, Tranylcypromin, Phenelzin) wirken nicht selektiv und irreversibel auf MAO-A und MAO-B. Wirkstoffe der 2. Generation wirken selektiv und irreversibel (Clorgylin auf MAO-A und Deprenyl auf MAO B), Stoffe der 3. Generation selektiv und reversibel (Moclobemid auf MAO-A, RO-19-6327 auf MAO-B). MAO-Hemmer können mit Medikamenten, die im perioperativen Bereich eingesetzt werden, interagieren. So sind beim Einsatz indirekt wirkender Sympathomimetika über die Freisetzung von Noradrenalin schwer beherrschbare hypertensive Krisen beschrieben. Ähnlich schwerwiegend ist die exzitatorische Reaktion nach Applikation von Pethidin, Tramadol und Dextromethorphan, die durch eine exzessive serotoninerge Aktivität gekennzeichnet ist. Die Schwere dieser Vorfälle hat früher zum obligaten Absetzen von MAO-Hemmern vor elektiven Operationen geführt. Dies galt vor allem für die irreversiblen und nichtselektiven MAO-Hemmer. Die Erholungszeit der MAO beträgt etwa 2 Wochen. Zum einen bedeutet dieses Vorgehen für die Patienten einen möglicherweise gefährlichen Rückfall bzgl. ihrer psychiatrischen Grunderkrankung, zum anderen kann in Notfallsituationen nicht abgewartet werden. Bei Beachtung der absoluten Kontraindikationen für Pethidin und Tramadol sowie Vermeidung von Hypoxie, Hypercarbie und arterieller Hypotonie und dem Verzicht auf indirekte Sympathomimetika (Ephedrin) wird ein Absetzen von MAO-Hemmern präoperativ nicht mehr als erforderlich angesehen. Da heute aber reversible und selektive MAO-Hemmer zur Verfügung stehen, sollten bei geplanten Eingriffen irreversible MAO-Hemmer über den Zeitraum von 2 Wochen durch reversible ausgetauscht werden, deren Wirkdauer nur 24 Stunden beträgt. Es liegen bislang keine Fallberichte über perioperative Komplikationen bei Patienten mit reversiblen MAO-Hemmern vor.
Lithium wird hauptsächlich zur Behandlung bipolarer affektiver Störungen eingesetzt. Aufgrund seiner engen therapeutischen Breite und ähnlicher Verstoffwechslung wie Natrium wird ein engmaschiges Monitoring des Lithiumspiegels auch perioperativ empfohlen. Alternativ wird ein perioperatives Absetzen 72 h vor einem operativen Eingriff diskutiert, v.a. da keine Entzugssymptomatik zu erwarten ist, das Risiko einer Intoxikation aber im Falle einer perioperativen hämodynamischen Instabilität oder eingeschränkten Nierenfunktion (Lithium wird renal ausgeschieden) hoch ist. Postoperativ sollte die Therapie beistabiler Elektrolytsituation rasch wieder begonnen werden.
Neuroleptika sind eine sehr heterogene Gruppe von Psychopharmaka mit sedierenden und antipsychotischen Eigenschaften. Sie werden v.a. zur Therapie von Wahnvorstellungen und Halluzinationen bei Schizophrenie und bipolaren Störungen eingesetzt. Neuroleptika sollten aufgrund des Risikos einer Rückkehr psychotischer Episoden und dem vermehrten Auftreten von postoperativer Verwirrung auch perioperativ weiter eingenommen werden.
Antiepileptika sollten perioperativ fortgeführt werden. Der Bedarf an Opioiden und Relaxantien dieser Patienten kann erhöht sein.
Methylphenidat gehört zu den Derivaten des Amphetamins und wird bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sowie bei Narkolepsie eingesetzt. Methylphenidat kann den Narkosebedarf steigern. Wegen seiner kurzen Halbwertszeit (2-4 h in unretardierter Form, bis zu 12 h in retardierter Tablettenform) kann Methylphenidat bis zur Prämedikation weiter verabreicht werden.
Die Symptomatik bei Patienten mit Morbus Parkinson wird durch einen Mangel an Dopamin im Bereich der Substantia nigra ausgelöst. Als Dauertherapie bei Patienten mit Parkinson-Syndrom kommen daher vor allem Substanzen zum Einsatz, die die Konzentration bzw. Wirkung von Dopamin im Gehirn erhöhen, z.B. durch exogene Zufuhr von Dopamin (L-Dopa) und Dopaminagonisten (z.B. Bromocriptin), aber auch durch Verlangsamung des Abbaus von endogenem Dopamin durch MAO-BInhibitoren (z.B. Selegilin) bzw. Erhöhungseiner Freisetzung durch NMDAAntagonisten (z.B. Amantadin). L-Dopa ist dabei als Monotherapie allen anderen Anti-Parkinson-Medikamenten in seiner Wirkung überlegen und wird daher am häufigsten eingesetzt. Die Halbwertszeit von L-Dopa ist kurz, und eine Unterbrechung der Therapie von 6-12 h kann eine schwere Muskelrigidität oder eine Parkinsonkrise mit vital bedrohlicher Symptomatik wie Schluck- und Ventilationsstörungen zur Folge haben. Daher sollte die orale Medikation mit L-Dopa, aber auch allen anderen Anti-Parkinson- Medikamenten bis zum Morgen der Operation beibehalten und unmittelbar postoperativ fortgeführt werden. In denjenigen Fällen, in denen die Medikation postoperativ nicht peroral eingenommen werden kann, ist in Rücksprache mit einem Neurologen die präoperative Umstellung auf einen transdermal resorbierbaren Dopaminagonisten (z.B. Rotigotin-Pflaster) zu erwägen. Dopamin-Antagonisten (z.B. Metoclopra- mid) sowie Medikamente mit dem Risiko extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen (z.B. DHB, HT3-Antagonisten) sollten vermieden werden. Im Falle einer akinetischen Parkinson-Krise wird die titrierte intravenöse Gabe von Amantadin (z.B. 1-2 x 200 mg i.v. über je 3 h) empfohlen.